Meine Entscheidung kurz vor der Bundestagwahl unangemeldet für einen Termin ins Bürgerbüro zu gehen, war wohl nicht die beste.
Das Bürgeramt in der Altstadt Dresdens war gut zu finden. Ich lief quietschvergnügt am Schauspielhaus vorbei, beobachtete Menschen und hatte zuvor einige schöne Telefonate geführt, die meine Stimmung erhellt hatten. Ich fühlte mich also gut und genoss die körperliche Bewegung bei diesem tollen Wetter.
Ich schaute auf die Tafel: 269 zeigte sie an! Ich las kurz die Anzeige auf dem Automaten, der Nummern verteilte und drückte auf den Knopf! Ich blickte auf meinen Zettel: 357! 357, dachte ich. Im Ernst? Naja, was soll’s.
Der Blick auf mein Handy verriet mir: nur noch 6 % Akku. (Als ich 10 Minuten später darauf blickte, war es noch 1 %! Irgendetwas stimmte da nicht.) Ein Buch hatte ich leider auch nicht dabei, mein Laptop würde ohne Ladekabel nicht mehr lang halten und die Suche nach einer Steckdose begann ich in einer öffentlichen Einrichtung dieser Art gar nicht erst. Also hechtete ich wenigstens zu einem eben frei gewordenen Platz.
Zwischen älteren Herrschaften, Leuten mit Kindern und gefühlt halb Dresden, blieb ich sitzen. Es war unbequem. Der Schweiß aller Menschen, die an diesem Tag jenen Raum betreten hatten, schwirrte umher und ich fragte mich ernsthaft wo all die 63 Menschen sein sollten, die wohl eine Nummer vor mir gezogen hatten.
Ping! Die 296 erschien auf dem Bildschirm. Es war 17:18 Uhr und ich schon über eine halbe Stunde da. Laut Öffnungszeiten sollte es noch bis 18:00 Uhr gehen ... doch ich würde vermutlich erst später wegkommen. Ich war mir unsicher, ob ich mich selbst mehr oder eher die Mitarbeiter bedauern sollte. Immerhin müssten diese wohl viel länger dort bleiben. Die Zeit auf meinem Zettel verriet mir, dass ich bereits seit 16:46 Uhr wartete.
„Darf ich Ihnen zu Ihrem Glück verhelfen?“, hörte ich eine Stimme neben mir.
Das, was wie ein unmoralisches Angebot klang, führte wahrscheinlich auch nur im Bürgerbüro zu extremer Freude! Die Dame neben mir begann, die Nummer einer jüngeren Frau anzunehmen und bat mir daher zu meinem Glück ihre eigene an. Das große Tauschgeschäft begann, in welches sich noch so mancher mit einmischen konnte.
345 stand nun auf diesem kleinen Papierzettel, dessen Existenz äußerst wichtig war. Die Anzeige war mittlerweile bei 309 angelangt und die Wartezeit meines Allerwertesten auf der unbequemen Bank bereits bei 45 Minuten. Noch 35 Menschen sollten vor mir dran sein. Immerhin hatte sich die anfängliche Zahl halbiert. Und alle Menschen die herein kamen, mussten sich die Nummern ab 392 abfinden. Alle litten mehr oder weniger gleich. (Die lange Wartezeit hatte jedoch nichts mit der Bundestagswahl zu tun, wie sich kurz darauf herausstellte.)
Ping! 314. Langsam wurde ich müde. Die Wartenden neben mir anscheinend nicht. In Gemeinschaftsarbeit lösten sie Denksportaufgaben aus dem Heft einer 10-jährigen, die ruhig neben ihrem Papa wartete. Dabei taten alle Rätselnden, als würde sie sich schon ewig kennen. 323! Okaaaay, dachte ich mir und atmete tief ein. Die fehlenden 22 Nummern würde ich auch noch schaffen.
Unterdessen stieg mein Apfel- und Kekskonsum. Der Zucker kam nur langsam im Blutkreislauf an. Ping! 326 ... Ping! 327. Langsam schienen die Mitarbeiter zu merken, dass in 18 Minuten Schließzeit war und noch viel zu viele Menschen im Raum warteten. 328. Ich dachte unwillkürlich an die Menschen, die vorhin etwas höheres als 392 gezogen hatten. Die Armen!
Ping! 329. Noch 16! Ping! 330. Noch 15! Mein Glück konnte ich kaum fassen.
Die Bänke knarrten und Unruhe machte sich breit. Die 330 verharrte eine gefühlte Ewigkeit an oberster Stelle der Anzeigetafel. Die Zeit verging. Eine Mama kam mit 3 Kindern herein.
„Mama, was machen die alle hier?“, fragte das kleinere Mädchen. Und das fragte ich mich mittlerweile auch. Ich hätte jetzt etwas von Bürokratie und Anträgen faseln können ... aber welches Kind wollte schon ernsthaft all den ‚wichtigen’ Erwachsenenkram durchblicken. Außerdem war ich mittlerweile viel zu müde, um irgendetwas zu sagen; nicht mal etwas Witziges kam mir über die Lippen. Ich lächelte vor mich hin.
Ein kleines Kind schrie. In seiner Situation hätte ich vermutlich dasselbe getan.
17:52 Uhr und der eine Prozent meines Handyakkus schlug sich wacker ... zumindest im Flugmodus. 338! Noch 7! 7 Nummern bis zu meinem Glück und 7 Minuten bis zur Schließzeit. Die Mama mit den 3 Kindern lächelte mir zu. Vermutlich weil ich irgendwie versuchte eine gemütliche Pose einzunehmen und für sie dies mit 3 Kindern nicht in Frage kam. Das Bürgerbüro mit 3 Kindern zu besuchen war sicherlich auch nicht so das gelbe vom Ei.
Die 338 bewegte sich nicht. Kurz vor 18 Uhr ‚pingte’ die 339. Juhu! Mittlerweile tat ich mir selbst mehr leid, als die Mitarbeiter. Diese hatten immerhin etwas zu tun und kannten ihre Arbeitszeiten. Ich langweilte mich unterdessen. Einzig die Aussage ‚Das Langeweile dem Körper gut tue’ hielt mich irgendwie aufrecht.
Ping. 345! Ich sprang auf. Wenige Augenblicke später stand ich wieder draußen.
Noch nie hatte die Altstadtluft so gut getan. Ich schlenderte heim. Es war so viel Zeit vergangen. Ich atmete ein. Die Sonne senkte sich langsam. Ich war erleichtert und auch verwirrt, das so viel Zeit vergangen war, die ich mit warten verbracht hatte.
Ein Punkt meiner To-Do-Liste konnte abgehakt werden. Das beruhigte mich. Ich atmete langsam ein und aus.
Ich lächelte.
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