Die Verkehrswende taugt nicht zum ideologischen Streit. In Großstädten findet sie längst statt. Sharing von E-Bikes und E-Rollern entlastet Busse, Straßenbahnen, S- und U-Bahnen, spart die Parkplatzsuche für Pkw. E-Autos im Carsharing werden so intensiv genutzt, daß man kurzfristig kaum noch welche buchen kann. Immer mehr wird auch das Fahrrad für den Weg zur Arbeit genutzt. Das Verkehrs-Chaos in vielen Großstädten führt zu solchen Ausweichstrategien, die klimaschonend sind.
Probleme haben meist Pendler. Außerhalb vieler Großstädte gibt es zu wenige Park- and Ride-Parkplätze (P+R) mit attraktiver ÖPNV-Anbindung in die Innenstädte. Außerdem ist die ÖPNV-Anbindung zur Rush Hour oft überlastet und unzuverlässig. S-Bahnen im Knoten Köln und S-Bahn-Stammstrecke München sind nur Beispiele.
Zwischen chinesischen und japanischen Millionenstädten und deren Umland verkeh-ren dagegen schon lange schnelle und leistungsfähige Nahverkehrszüge. Auch europäische Metropolen und Ballungsräume mit historisch gewachsenen U-Bahn-Netzen und leistungsstarken Verbindungen in die Vorstädte wie Berlin, Brüssel, Helsinki, London, Madrid, Moskau und Paris zeigen den Trend zur Verstädterung.
Im ländlichen Raum ist es dagegen schwieriger, ohne Auto flexibel beweglich zu sein sowie Einkäufe und Lasten zu transportieren. Das hat zum Teufelskreis geführt, daß der ÖPNV immer weniger ausgelastet wurde und deshalb ausgedünnt worden ist. Hier muß die Verkehrswende ansetzen. Statt auf Auslastung zu warten und dann Takt und Kapazitäten im ÖPNV zu erhöhen, kann es nur umgekehrt richtig sein.
Eine wesentliche Aufgabe kommt dabei der privatisierten Deutschen Bahn (DB) zu. Um deren Börsengang zu betreiben, wurden Investitionen aus Eigenmitteln in die Erhaltung von Brücken und Strecken viel zu lange aufgeschoben. Das Netz wurde so lange auf Verschleiß gefahren, bis nur noch Neubau und Totalsanierung möglich war. Denn nur dafür gibt es Bundesmittel. Dieser Sanierungsstau führt jetzt zum Kollaps.
Diese verfahrene Situation hat nicht die derzeitige Bundesregierung verschuldet. Sie hat sie nur geerbt. Der Größenwahn des geplanten Börsenganges der Bahn endete zwar 2011. Aber die Profitmaximierung der Deutschen Bahn endete damit nicht. Jetzt fehlen die Rücklagen, um das marode Netz nicht nur zu sanieren, sondern auszubauen. Man fühlt sich an die Deutsche Reichsbahn der DDR (DR) erinnert.
Blinde neoliberale Betriebswirtschaft nach dem Motto "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren" hat den Börsengang der Bahn gefordert. Hartmut Mehdorn hat den Raubbau an Schienennetz und sonstiger Bahninfrastruktur auftragsgemäß vorangetrieben. Heute sagt er selbst dazu: „Der Staat hat seine Bahn-Infrastruktur über lange Jahre sträflich vernachlässigt“, vgl. https://bit.ly/45fMmNO (URL).
Dieses vorausgeschickt, schlage ich als Maßnahmen für eine Verkehrswende vor:
1. Verdoppelung der Ausgaben für ÖPNV und Pendler-Fernverkehr, d.h. systemisch ÖPNV und Pendler-Fernverkehr der Bahn als Gemeinwohl-Aufgabe der Bahn und der Kommunen. Das ist eine Abkehr von der Privatisierung der Bahn, die wir fast bis zum Börsengang betrieben haben. Heute ist anerkannt, daß das ein Irrweg war.
2. Vorschlag, Lastverkehr von den Autobahnen auf Schiene und Wasserwege zurück zu verlagern, d.h. systemisch das Ende der Just-in-time-production und stattdessen wieder Lastverkehr auf der Schiene und auf dem Wasser sowie Lagerhaltung.
Um die Ausgaben für ÖPNV und Pendler-Fernverkehr der Bahn zu verdoppeln, damit das marode Netz der Bahn schnell zu sanieren sowie Takt und Kapazitäten des ÖPNV und des Fernverkehrs der Bahn zu erhöhen, braucht es zusätzliche öffentliche Mittel. Dieser Mittelbedarf ist die Erblast der letzten dreißig Jahre, ist jetzt umso höher.
Um den Lastverkehr von den Autobahnen auf die Schiene und die Wasserwege zurück zu verlagern, müssen wir die Infrastruktur der Güterbahnhöfe, der Güterzug-Rampen an jedem Bahnhof und der Güterzug-Anschlußgleise bei nahezu allen Industriebetrieben wiederherstellen, die früher vorhanden war. Dabei geht es nicht um Beladung der Güterwaggons mit einzelnen Getreidesäcken oder um Kipp-Loren für Getreide. Es geht um Container-Verladung auf Schiene und Wasserstraße in großem Stil und um Speditions-Güterverkehr für die letzte Meile. Es geht darum, daß Autobahnen, Autobahn-Parkplätze, Autobahn-Rasthöfe und Autobahn-Autohöfe nicht immer weiter ausgebaut werden, sondern zurückgebaut werden. Und es geht darum, den Einsatz von Berufskraftfahrern für jeden einzelnen Lkw über lange Strecken zu beenden, der lediglich die Ladung von ein bis maximal zwei Containern transportieren kann, dafür aber eigenen Antrieb und eigene Logistik benötigt.
Diese Maßnahmen erfordern eine gemeinsame Anstrengung aller Parteien, um die gesetzlichen Grundlagen und die notwendigen Haushaltsbeschlüsse zu beschließen. Wenn wir weiter jede Diskussion über eine Verkehrswende verhindern, indem wir Wahlkämpfe um mehr oder weniger Autobahnausbau und Parkplätze führen, vergeben wir die einzige Chance zu einer grundlegenden Verkehrswende.
Zum Verfasser: Otfrid Weiss ist Assessor jur., Ministerialrat a.D. und Oberst der Reserve. Nach seiner Verwaltungslaufbahn war er 21 Jahre in der Wirtschaft tätig, davon 14 Jahre bei SAP, Microsoft, Vision Consulting und Deloitte.