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Bauernproteste europaweit – wofür oder wogegen?

Ketten-Traktor Case III 620, Foto von Otfrid Weiss, 5. Juni 2016
Ketten-Traktor Case III 620, Foto von Otfrid Weiss, 5. Juni 2016

Bauern protestieren mit Traktor-Korsos, blockieren Autobahnauffahrten, Innenstädte und Straßen. Aber Demonstrationsfreiheit gilt nur für natürliche Personen.

Seit Wochen blockieren Landwirte mit ihren Traktoren in mehreren europäischen Ländern Autobahnauffahrten, Innenstädte und Straßen, organisieren Sternfahrten auf Hauptstädte wie Berlin und Paris. Sie protestieren damit konkret gegen Dumping-Preise für ihre Produkte bei Discountern und Lebensmittelmärkten und generell wegen geringer Einkommen und steigender Kosten. Alle Proteste wenden sich gegen steigenden bürokratischen Aufwand und Umweltauflagen aus Brüssel.

Die Europäische Union (EU) unterstützt die Landwirtschaft in den Mitgliedstaaten mit jährlich mehr als 50 Milliarden Euro aus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Davon gehen gut sechs Milliarden Euro an Deutschland. Die Gelder sind zum Teil an Umweltauflagen geknüpft, deren Einhaltung laufend protokolliert werden muß.

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU verfolgt das Ziel, die Versorgung mit Nahrungsmitteln innerhalb der EU zu gewährleisten und die Einkommen der Landwirte mit Milliarden-Subventionen zu sichern, die sonst im globalen Dumping-Wettbewerb keine Chance hätten. Die GAP ersetzt zu weiten Teilen nationale Agrarförderpolitiken und sieht Direktzahlungen an die Landwirte vor (Basisprämie als Einkommensgrundsicherung und Greening-Prämie für Landbewirtschaftungsmethoden, die dem Klima- und Umweltschutz förderlich sind). Die Kehrseite sind bürokratische Verwendungsnachweise für die laufenden Subventionen. Doch dagegen wenden sich die europaweiten Bauernproteste jetzt konzertiert.

Die Proteste zeigen Wirkung. Ein Gesetz für die Verringerung des Pestizideinsatzes in der Europäischen Union (EU) wurde im November 2023 in einer Abstimmung im Europäischen Parlament gekippt. Dafür hatten konservative und liberale, rechte und sozialdemokratische Abgeordnete im Europäischen Parlament gemeinsam gestimmt. Im Januar 2024 startete die EU-Kommission einen „Strategischen Dialog“, der Bauernverbände mit Umweltorganisationen und Lebensmittelindustrie an einen Tisch bringen soll, und setzte Vorschriften für einen Mindestanteil an Brachland auf Ackerflächen bis Jahresende 2024 aus. Doch die Bauernverbände wollen mehr.

Vorgestern gab die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, bekannt, den Gesetzentwurf zur Verringerung des Pestizideinsatzes zurückziehen zu wollen. Der Vorschlag sei zu einem „Symbol der Polarisierung“ geworden, erklärte von der Leyen. Die Kommission hatte vorgeschlagen, den Einsatz von Pestiziden in der EU bis 2030 zu halbieren, um dem Artensterben der Bienen u.a. Insekten zu begegnen.

Politisch stellt das Scheitern des Gesetzes zur Verringerung des Pestizideinsatzes in der EU auch den Europäischen Green Deal in Frage, den Ursula von der Leyen nach ihrer Wahl 2019 zu ihrem politischen Programm gemacht hatte. Hintergrund war, daß sie nur mit den Stimmen der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt werden konnte.

Mit dem Europäischen Green Deal wollen die 27 EU-Mitgliedstaaten zum einen bis 2050 klimaneutral werden. In einem ersten Schritt sollen die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber dem Stand von 1990 sinken. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Wirtschaft und Gesellschaft in vielen Bereichen neu ausgerichtet werden. Zum anderen soll der natürliche Lebensraum geschützt werden, sollen durch die Eindämmung der Umweltverschmutzung das menschliche Leben sowie die Tier- und Pflanzenwelt geschützt werden. In der Landwirtschaft sind dazu der Pestizideinsatz bei der Ungezieferbekämpfung und die Grundwasser-Belastung mit Nitraten, Phosphaten und Stickstoff bei der Düngung zu verringern.

In meiner niedersächsischen Heimat sind die Landkreise Cloppenburg und Vechta seit 40 Jahren berüchtigt für ihren viel zu hohen Gülle-Einsatz bei der Düngung, siehe die damalige Reportage von Radio Bremen „Und ewig stinken die Felder“. Wenn der Gülle-Einsatz nicht protokolliert und kontrolliert wird, wird betrogen und massiv überdüngt. In den Landkreisen Cloppenburg und Vechta fielen 2012 etwa 3,3 Millionen Tonnen Gülle mehr an als gemeldet: (ZITAT) Die Agrarstatistik des Landwirtschaftsministeriums weise mehr als 14 Millionen Hühner und 800.000 Schweine weniger aus als die Listen der Tierseuchenkasse, sagte Grünen-Fraktionsvize Christian Meyer am Freitag in Hannover. Die Grünen gingen davon aus, dass viele Felder häufig „doppelt und dreifach“ gedüngt würden, sagte Meyer. (ZITAT ENDE) – Quelle: Nordwest-Zeitung (NWZ) online am 16. März 2012, URL https://www.nwzonline.de/wirtschaft/cloppenburg-vechta-gruene-guellemassen-belasten-cloppenburg-und-vechta_a_1,0,520243979.html. Auch heute noch wird im Landkreis Cloppenburg weiterhin zu viel Gülle in die Ackerböden ausgebracht: (ZITAT) Bei der Reduzierung des Stickstoffs gibt es Fortschritte. Nur noch der Kreis Cloppenburg reißt in Niedersachsen die Obergrenze. Das Zuviel an Phosphat bleibt ein verbreitetes Problem. (ZITAT ENDE) – Quelle: OM online am 15. März 2021, URL https://www.om-online.de/wirtschaft/es-gibt-weniger-uberschusse-an-gulle-und-co-im-land-kreis-vechta-schafft-wende-65379.

Dies nur als Beispiel dafür, daß Subventionen an nachprüfbare Nachweise der ordnungsgemäßen Verwendung ausgezahlter Gelder gekoppelt werden müssen.

Bleibt die Frage, wofür oder wogegen die europaweiten Bauernproteste offenbar konzertiert zu Felde ziehen. Daß Agrardiesel für Landwirte nur in Deutschland bis 2026 sukzessiv nicht mehr subventioniert wird, kann nicht der Grund für Bauern anderswo in Europa sein. Der bürokratische Aufwand bei der Buchhaltung für die erhaltenen Milliarden-Subventionen von der EU kann, nein darf es nicht sein. Schon eher muß die Vermutung erlaubt sein, daß die Umweltauflagen der EU die Bauern stören, weil auch deren Einhaltung bürokratisch protokolliert werden muß. Allerdings ist auch die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß die Umweltauflagen der EU selbst die Bauern stören, weil sie weniger Erträge erzielen, wenn sie weniger Pestizide und Düngemittel auf ihre Felder ausbringen.

Unabhängig davon, welche Vermutung zutrifft, sind die europaweiten Bauernproteste nicht etwa zulässige Demonstrationen natürlicher Personen, sondern mit Blockaden durch Traktoren und andere Maßnahmen der Nötigung von Verkehrsteilnehmern offene Aufstände gegen Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse der EU und nationale Gesetze der EU Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Rechtsakte.

In Deutschland verstoßen die Bauernproteste in ihrer derzeitigen Form klar gegen Verfassungsrecht. Das Grundrecht, sich unter freiem Himmel friedlich und ohne Waffen zu versammeln (Artikel 8 Grundgesetz), gibt nur natürlichen Personen zusammen mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit das Recht, auch kollektiv und demonstrativ ihre Meinung auf Demonstrationen zu verkünden. Es gibt aber kein Recht, seine Meinung mit Traktor-Blockaden von Autobahnauffahrten, Straßen und Innenstädten auch durchzusetzen, und schon gar kein Recht auf Widerstand.

In der alten Bundesrepublik gab es in den sechziger Jahren Demonstrationen, die einerseits eskalierten und unfriedlich verliefen, die andererseits aber auch von der Polizei - damals noch ohne jede Deeskalation - repressiv aufgelöst wurden. Das habe ich 1969 in Hannover auf Rote-Punkt-Demonstrationen selbst erlebt. Später hat der Bundesgerichtshof (BGH) geurteilt, daß bei Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen Straßenbahnen mit Sitzblockaden bis zu 15 Minuten blockiert werden dürften, aber nicht länger. Es gab weitere Rechtsprechung dazu, auch vom Bundesverfassungsgericht. Grundsätzlich gilt für Bauern, Klimakleber und Studenten gleichermaßen, daß Blockaden nur eine angemessene Zeit lang zulässig sind, danach als Nötigung rechtswidrig und nicht vom Grundrecht gedeckt sind.

Ein Recht auf Widerstand gibt es als Ausnahmerecht, nicht als Grundrecht in Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Gemeint ist die Ordnung der parlamentarischen Demokratie, des sozialen und föderalen Rechtsstaates, die in Artikel 20 Absatz 1 bis 3 genannt werden. Dieses Recht auf Widerstand ist 1968 mit der Notstandsverfassung ins Grundgesetz aufgenommen worden, soll einem Mißbrauch der Notstandsbefugnisse zu einem Staatsstreich vorbeugen, gilt nur im Katastrophen-, Verteidigungs- und Spannungsfall. Ansonsten und im Normalfall gilt kein Recht auf Widerstand, solange die Institutionen des demokratischen und sozialen Rechtsstaats einigermaßen normal funktionieren. Solange "Konflikte noch in zivilen Formen" ausgetragen werden können, solange das demokratische System intakt ist und solange "friedlicher Protest noch Gehör" finden kann, dürfen Bürger nicht das Gewaltmonopol des Staates brechen.

Damit ist völlig ausgeschlossen, daß Bauern und andere Bürger, deren Meinung nur nicht mehrheitsfähig ist, sich gewissermaßen aus moralischen Gründen auf ein Widerstandsrecht berufen können, weil sie sich von der Mehrheit unterdrückt fühlen. Auch eine behauptete sog. schweigende Mehrheit rechtfertigt keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt, auch nicht gegen Rechtsakte der EU. Nur Mehrheiten, die in Abstimmungen und Wahlen festgestellt sind, sind Mehrheiten. Im Juni 2024 findet die nächste Wahl zum Europäischen Parlament statt. Europäische Agrar- und Umweltpolitik steht dort in Alternativen zur Auswahl. Sonst nicht.

Zum Verfasser: Otfrid Weiss ist Assessor jur., Ministerialrat a.D. und Oberst der Reserve. Nach seiner Verwaltungslaufbahn war er 21 Jahre in der Wirtschaft tätig, davon 14 Jahre bei SAP, Microsoft, Vision Consulting und Deloitte.