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Liberalismus versus Normalismus

Bahnhofsdach in Liege / Lüttich in Belgien. Foto von Otfrid Weiss 2017
Bahnhofsdach in Liege / Lüttich in Belgien. Foto von Otfrid Weiss 2017

Ver­fechter liberaler Gesellschaftsmodelle verlieren Wahlen gegen nationalistische und ultrakonservative Parteien. Geht der Trend zum Normalismus?

Die liberalen Demokratien vieler westlicher Gesellschaften sind in Gefahr. Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders und Aleksandar Vucic stehen ante portas. Jair Bolsonaro und Jarosław Kaczyński haben schon regiert, sind nur knapp abgewählt. Auch andere Länder sind politisch gespalten. Nationalistische und ultrakonservative Parteien gewinnen immer mehr Stimmen und Wahlen. Ihre Spitzenkandidaten haben im politischen Machtkampf immer leichteres Spiel. Dagegen verlieren Verfechter liberaler Gesellschaftsmodelle Einfluß, Stimmen, Mehrheiten und Wahlen.

Was hat diesen Wandel quer durch fast alle westlichen Demokratien verursacht? Welche Erklärungen und welchen gemeinsamen Nenner gibt es? Wie konnten und können Wahlen damit gewonnen werden, Pressefreiheit, Minderheitsrechte und Unabhängigkeit der Gerichte zu beschränken? Was destabilisiert bisher stabile parlamentarische Demokratien mit moderaten wechselnden Mehrheiten? Warum gewinnen radikalere Parteien Wahlen gegen liberale und konservative Parteien?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Selbstbestimmung für Menschen, Informationen und Meinungen hat den Kalten Krieg beendet, hat Mauern einstürzen lassen, Diktaturen hinweggefegt und die Welt verändert. Liberale Demokratien und Menschenrechte schienen am Ende des letzten Jahrhunderts historisch gesiegt zu haben. Die Europäische Union nahm neue Mitgliedsstaaten in Osteuropa nur nach klaren demokratischen und rechtsstaatlichen Kriterien auf und verhängte Strafzahlungen unter anderem gegen Polen, weil dort ab 2015 Justiz, Parlament und Presse behindert wurden.

Dabei war gerade Polen seit 1980 Wegbereiter für das Ende der Sowjetunion und des Warschauer Paktes gewesen. Solidarność war weit mehr als eine bloße Gewerkschaft, war eine das gesamte Land erfassende Bewegung, in der sich das Streben der Polen nach Demokratie und Freiheit ausdrückte. In der Solidarność wurde nationale und christliche Symbolik mit dem – gewaltfreien – Kampf um Arbeitnehmer- und Bürgerrechte verknüpft, vgl. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/solidarnosc/geschichte.

Aber ausgerechnet in Polen gab es 2005 bis 2007 schon einmal einen Rollback, bei dem die PiS-Partei das politische Leben Polens undemokratisch dominierte. Geradezu handstreichartig hatten damals Vertraute und Gefolgsleute von Jarosław und Lech Kaczyński, in jenen Jahren Regierungschef und Staatspräsident, das Kommando in weiten Teilen der Ministerien und Regierungsagenturen, in zentralen Ämtern und Behörden, in der Leitung und Administration des Parlaments sowie in den Vorständen und Aufsichtsräten der staatlichen Unternehmen und Börsengesellschaften übernommen. Mit dem Zentralen Antikorruptionsbüro (Centralne Biuro Antykorupcyjne – CBA) wurde eine starke politische Polizei aufgebaut, die sich unter drastischer Missachtung von Rechtsgrundsätzen vor allem der Ausschaltung politischer Gegner von PiS widmete. Die klare Trennung in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion wurde zugunsten der ausführenden Gewalt aufgehoben. Justizorgane wurden politisch instrumentalisiert, insbesondere auch das Verfassungsgericht. Viele Mitarbeiter auf den Leitungsebenen des öffentlichen Fernsehens und Radios mussten gehen. Geschichtspolitik verkam zu nationalistischer Propaganda. – Quelle: ebenda

Von 2007 bis 2014 gab es eine andere, wieder klar demokratische Regierung unter Donald Tusk. Aber 2015 wurde wieder die PiS-Partei mit Mehrheit gewählt und unterwanderte die Institutionen der parlamentarischen Demokratie Polens erneut. Was war die Ursache für diesen Rollback? Die PiS-Partei verdankte ihren Erfolg vor allem dem Aufbegehren der jungen Generation, dem Unmut der sozial Schwachen und dem besonders in den ländlichen Regionen Polens weit verbreiteten Haß auf die selbstherrlichen politischen und wirtschaftlichen Eliten in den Städten. Der Mythos der Transformation von 1989 und deren Helden war verblasst. – Quelle: ebenda

Was lehrt uns dieses historisch herausragende Beispiel? Könnte es sein, daß grundlegende liberale Ideen und Menschenrechte wie Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, Glaubens-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gerade auch für Minderheiten sowie persönliche Freiheitsrechte vom Eigentumsrecht bis hin zur Ausübung kultureller und körperlicher Eigenheiten gerade dadurch gefährdet werden, daß sie von „selbstherrlichen politischen und wirtschaftlichen Eliten in den Städten“ exzessiv ausgelebt und in beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien scheinbar als Staatsdoktrin eingehämmert und verbreitet werden?

Auch in den USA, der ältesten ununterbrochen bestehenden Demokratie der Welt, drängen sich solche Analysen auf. In der Präsidentenwahl 2016 wurden Fake News und alternative Wahrheiten gegen angeblich linksliberale Eliten in Washington, D.C. und in anderen Großstädten überraschend salonfähig. Schon vorher hatten Fox News und die Tea-Party-Bewegung die politische Debatte in den USA vergiftet, bestimmten Polarisierung, Populismus und Propaganda die Wahlkämpfe zunehmend allein. Meinungsmache und Mobilisierung wurden wahlentscheidend.

Wie ist es dazu gekommen? Armut, fehlende oder schlechte Verkehrsanbindung an Ballungsräume sowie das Gefühl, von prosperierenden Entwicklungen in Groß-städten abgehängt zu sein, können den „besonders in den ländlichen Regionen Polens weit verbreiteten Haß auf die selbstherrlichen politischen und wirtschaftlichen Eliten in den Städten“ allein nicht erklären, weder in Polen noch anderswo.

Meine These ist, daß zuerst im ländlichen Raum, aber zunehmend auch in den Städten Geduld und Verständnis dafür verloren gehen, daß die oben ausgeführten Freiheits- und Gleichheitsrechte immer extensiver ausgelegt werden, zum Teil ins Absurde gesteigert und dazu mißbraucht werden, Ausnahmen zur Regel zu machen.

Bezogen auf Deutschland erlaube ich mir diese Beispiele:

Datenschutz wird allzu oft absolut gesetzt. Videoaufnahmen im öffentlichen Raum werden deshalb auf vielen Veranstaltungen und Weihnachtsmärkten nicht gemacht, obwohl die öffentliche Sicherheit dort nicht nur durch Taschendiebstähle, sondern auch durch Gewaltdelikte gefährdet wird, die ohne Videoüberwachung weder verhindert noch strafrechtlich verfolgt werden können. Belgien macht es besser. Dabei wären Videoaufnahmen auch in Deutschland nach Hinweis zulässig.

Frauen sind in unserer Gesellschaft gleichberechtigt, aber Männern noch nicht überall gleichgestellt. Für Führungspositionen gelten zunehmend Frauen-Quoten. Frauen- und Gleichstellungs-Beauftragte sind in Behörden und Betrieben schon lange tätig. Die sprachliche Gleichstellung von Frauen und Männern nimmt aber langsam groteske Züge an. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Eine klare Mehrheit unserer Bevölkerung regt sich über diesen „Genderwahn“ auf.

Gleichgeschlechtliche Beziehungen werden weitgehend akzeptiert. Solche Paare dürfen standesamtlich heiraten und jetzt sogar katholisch gesegnet werden. Auch diverse Geschlechter sind anerkannt. Das führt schon zu kuriosen Regelungen für Toiletten. Aber die freie Geschlechtswahl wird weit übertrieben, schon Kinder sollen ihr Geschlecht frei wählen dürfen. Die Bevölkerungsmehrheit akzeptiert das nicht.

Das Grundrecht auf Asyl gilt schon lange nur noch rudimentär. Asylbewerber und Flüchtlinge sind längst nicht mehr willkommen. Die politische Diskussion dreht sich fast nur noch um Abschiebung und Aufnahme in Drittstaaten, nicht um Integration. Auch Flüchtlinge aus der Ukraine sind nicht beliebt. Viel zu lang wurden Mißbrauch und Straftaten nicht geahndet, wurde unser Rechtsstaat nicht durchgesetzt.

Das führt zur Ablehnung von Asylbewerbern, Flüchtlingen und Migranten generell in immer größeren Teilen unserer Bevölkerung. AfD, Boulevardpresse und jetzt sogar Teile der Linkspartei heizen die Stimmung weiter auf, profitieren populistisch von zunehmender Ausländerfeindlichkeit. Die deutsche Willkommenskultur von 2015 ist einer Abwehrhaltung gewichen, die mittlerweile wahlentscheidend geworden ist.

Die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunk-Anstalten wollten diesem Trend entgegenwirken, haben damit aber das Gegenteil erreicht. Wer totschweigt, lügt. Immer mehr Bürger vermuten Menschen mit Migrationshintergrund hinter jeder Messerstecherei, gerade weil ARD und ZDF nichts über mögliche Täter berichten. Besonders im Osten verbreitet sich das Unwort der „Staatsmedien“ immer mehr.

Dies sind nur Beispiele dafür, daß in unserer Gesellschaft Geduld und Verständnis dafür verloren gehen, daß die oben ausgeführten Freiheits- und Gleichheitsrechte immer extensiver ausgelegt werden, zum Teil ins Absurde gesteigert und dazu mißbraucht werden, Ausnahmen zur Regel zu machen. Das nenne ich Liberalismus.

Demgegenüber sehe ich einen Trend dahin, daß die Rückkehr zum Normalen, die Negation abweichender Lebensmodelle und die Ablehnung unnormaler Menschen nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch bei uns salonfähig wird. Übertriebene Liberalität führt zu mehr Ausländerfeindlichkeit und Homophobie. Übertriebener Minderheitenschutz führt zum Aufstand der Mehrheit. Das nenne ich Normalismus.

Die Antagonie von Liberalismus und Normalismus beeinflußt Wähler und entscheidet Wahlen – 2024 in Sachsen und Thüringen sowie zum Europäischen Parlament. Meine Vorhersage lautet: Der Trend geht zum Normalismus.

Zum Verfasser: Otfrid Weiss ist Assessor jur., Ministerialrat a.D. und Oberst der Reserve. Nach seiner Verwaltungslaufbahn war er 21 Jahre in der Wirtschaft tätig, davon 14 Jahre bei SAP, Microsoft, Vision Consulting und Deloitte.