Während des Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm (Dok) spielt in diesem Jahr Vergangenes eine besondere Rolle. «Mein Eindruck ist, dass nachdem während der Pandemie relativ viele Filme entstanden sind, die über private Geschichten gesellschaftliche Themen entdeckt haben, wir jetzt wieder verstärkt auf historische, gesellschaftlich übergreifende Themen blicken», sagte Dok-Chef Christoph Terhechte vor Festivalbeginn im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Geschichte in Dokumentarfilmen könne dazu dienen, zu verstehen, was in der Gegenwart passiere oder wie die Zukunft anders gestaltet werden könne. Das Festival findet in diesem Jahr zwischen dem 8. und 15. Oktober in Leipzig statt.
Die Veränderung in der Filmbranche sei auch Folge einer allgemeinen Unsicherheit - «auch in der Neuformung von geopolitischen Machtblöcken und Kriegen, ökonomischen Krisen, von der Klimaerwärmung und vielem anderen mehr», so Terhechte. Durch die Beschäftigung mit jenen ernsten Themen - unter anderem auch mithilfe von Filmen - könnten Menschen Sicherheit gewinnen. «Unsicherheit kommt meistens dadurch, dass man nur was aufschnappt, es aber nicht wirklich verarbeitet. Sich mit anderen Menschen damit auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel Filmschaffende sich den Themen angenähert haben, kann nicht nur dazu führen, optimistischer zu werden, sondern auch gestärkt mit der aktuellen Situation umzugehen.»
Nicht alles könne jedoch durch Film aus dem Weg geräumt werden: «Natürlich gibt es nie leichte Antworten. Filme, die einfache Antworten geben, sind meistens die langweiligsten. Es ist immer gut, wenn Fragen offenbleiben.» Außerdem werde das Dok nicht ausschließlich das «Elend der Welt» zeigen, sagte er schmunzelnd. «Wir zeigen auch durchaus sehr humorvolle Filme.»
Ein Themenschwerpunkt könne in diesem Jahr nicht wirklich ausgemacht werden, so der Festival-Chef. «Es gibt zum Beispiel einen Film, der nach Frankreich blickt, als der Zweite Weltkrieg endete. Die Regisseurin erzählt von ihrem Großvater, der als Opfer der Deutschen galt, in Wirklichkeit aber von der Résistance ermordet wurde, weil er Kollaborateur der Deutschen war.»
Ein anderer Film greife die Zeit des Apostels Paulus und gleichzeitig die Ermordung der Tochter des deutschen Theologen Ernst Käsemann auf, erzählt Terhechte. «In weiteren Filmen werden die deutsche Kolonialgeschichte, das Thema Missbrauch in der Kirche oder queere Perspektiven thematisiert. Außerdem gibt es verschiede Filme, die sich damit auseinandersetzen, wie Traumata innerhalb von Familien weitergetragen werden.»
Eröffnet werde das Festival in diesem Jahr mit dem Film «White Angel - Das Ende von Marinka» des Journalisten Arndt Ginzel. Er erzählt die Geschichte des ukrainischen Ortes Marinka, der beim Einmarsch der Russen im vergangenen Jahr zerstört wurde. Zu sehen seien unter anderem Helmkamera-Aufnahmen eines Polizisten: «Man sieht verängstigte Menschen im Keller, man sieht Verletzte, auch Tote. Das Filmteam um den Leipziger Journalisten hat im März dieses Jahres Retter und Gerettete aufgesucht und sie interviewt.»
Das Dok findet jährlich in Leipzig statt. Neben Dokumentarfilmen werden auch Animationsfilme gezeigt. Ziel des Festivals ist es unter anderem, die Dokumentar- und Animationsbranche zu zeigen und besser zu vernetzen. In Wettbewerben mit unterschiedlichen Kategorien werden zum Ende des Festivals Silberne und Goldene Tauben vergeben. Um den Animationsfilm weiter zu stärken, wurde in diesem Jahr die Wettbewerbsstruktur verändert: Erstmals werden auch lange Animationsfilme in den Wettbewerb eingebunden und konkurrieren um eine Goldene Taube.
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