Es waren Worte, die aufrütteln. Wie «Freiwild» würden Politikerinnen und Politiker teils behandelt, sagte der sächsische Landrat Dirk Neubauer im Video zur Begründung seines Rückzugs. Er sei seit «Monaten konfrontiert mit einer persönlichen diffusen Bedrohungslage aus rechter Ecke». Dazu kämen politische Blockaden. Es sei ein Punkt erreicht, an dem der parteilose Kommunalpolitiker sagen müsse: Es reicht. Nun ist die Betroffenheit groß. Wieder einer, der sagt: Das tue ich mir nicht länger an.
Ein «fatales Signal» sei das, erklärte der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Die Demokratie sei in Gefahr. Ein Monitoring des Bundeskriminalamts zeigt: 38 Prozent von über 1.700 befragten kommunalen Amtspersonen in Deutschland haben zwischen November 2022 und April 2023 Anfeindungen erlebt. Gut ein Viertel davon seien Hasspostings, mit steigender Tendenz. Zwei Prozent seien tätliche Übergriffe. Nur einer von zehn Vorfällen werde angezeigt. Die Zahl der Anfeindungen sei während der Corona-Zeit stark gestiegen, sagte ein Sprecher des Deutschen Städtetags. «Leider ist die Zahl der Fälle nicht wirklich zurückgegangen.»
«Demokratie nicht möglich ohne die, die anpacken»
Die Folgen sieht auch der Städtetag mit Sorge. «Wenn Menschen sich nicht mehr trauen, für ein Amt zu kandidieren, weil sie Angst um ihre Gesundheit haben müssen, zerbricht unser demokratisches Gemeinwesen», sagte Verbandspräsident Markus Lewe. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt warnte: «Unsere Demokratie ist nicht möglich, ohne die, die anpacken, damit der Laden läuft.»
Selbst Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich in seiner Sommerpressekonferenz dazu, nicht direkt zum Fall Neubauer, aber allgemein: Viele sähen sich vor Ort aggressiven Bedrohungen ausgesetzt - «ob durch Worte oder manchmal darüber hinaus», sagte der SPD-Politiker. Der Ton der gesellschaftlichen Debatte dürfe nicht von den «Spaltern» bestimmt werden - Scholz sprach von «Polarisierungsunternehmern».
«Bedrohung kein durchgängiges Phänomen»
Der Deutsche Landkreistag gehört zu jenen, die vor Verallgemeinerungen warnen. «Es ist kein durchgängiges Phänomen, dass Landrätinnen und Landräte in Deutschland bedroht werden», sagte Verbandspräsident Reinhard Sager der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Grundsätzlich funktioniere die Arbeit in den Landkreisen gut, und man könne auch gestalten. Allerdings räumt auch Sager ein, es würden in der Kommunalpolitik «mehr oder weniger alle auch mit polemischer Kritik konfrontiert, auch mit anonymen Beleidigungen».
Nicht alle, die Anfeindungen erleben, stecken das einfach weg, das weiß auch Sprecher Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. «83 Prozent der Betroffenen leiden an psychischen oder physischen Folgen, insbesondere dort, wo auch die Familie ins Visier gerät.» Jeder zehnte gebe auf, berichtet Handschuh unter Berufung auf das BKA-Monitoring.
«Rote Linien erreicht»
Neben Neubauer gab es in jüngster Zeit einige andere, die ihr geplantes Ausscheiden aus der Politik auch mit erlebter Hetze begründeten. Darunter war die sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Yvonne Magwas. Der SPD-Politiker Karamba Diaby aus Sachsen-Anhalt zieht sich ebenfalls zurück.
Der in Afrika geborene Bundestagsabgeordnete hat als Politiker fast alles erlebt, darunter einen Brandanschlag auf sein Wahlkreisbüro. «Einige Phasen waren sehr schwierig», sagte Diaby der dpa. «Mitarbeiter von mir wurden erpresst, sie sollten Geld zahlen oder bei mir kündigen. Es gab Morddrohungen. Das sind Momente, wo rote Linien erreicht sind.»
Diese Ereignisse ließen ihn nicht unberührt, sagte Diaby. «Aber die Leute müssen wissen: Ich lasse mich nicht einschüchtern. Das ist genau das, was diese Akteure erreichen wollen, und ich gebe nicht nach.» Deshalb stellt der 62-Jährige auch einen anderen Grund für sein Ausscheiden in den Vordergrund: «Nach drei Legislaturperioden im Deutschen Bundestag ist es Zeit, neue Wege zu gehen und jüngeren Leuten Platz zu machen.»
«Das zehrt politisch und privat»
Wenn sich Politikerinnen oder Politiker zurückziehen, spielt oft vieles zusammen - so wie bei Neubauer. Dass es immer mehr kleine, oft lautstarke Parteien und Wählergruppen gibt, macht die Mehrheitsfindung schwer. Die Prozesse sind lang, auch Politiker hadern damit, nicht schnell viel bewirken zu können. Kommt dann noch Feindseligkeit dazu, geht einigen schlicht die Kraft aus.
Auch die langjährige Thüringer Grünen-Politikerin Astrid Rothe-Beinlich möchte sich nach der Landtagswahl im September verabschieden - mit nur 50 Jahren. Personelle Veränderungen in der Politik seien wichtig, hat sie zu ihrer Entscheidung gesagt. Aber auch: Sie sei nicht mehr bereit, sich allen politischen Zwängen zu stellen - «das zehrt politisch und privat». Sie könne und wolle sich «nicht bis zur Unkenntlichkeit verbiegen».
«Ein Ende der Scharfmacherei»
Im Ergebnis bleibt die Frage: Finden sich auf Dauer genügend Menschen, die sich in der Politik engagieren, die sich wählen lassen und gestalten wollen? Die sich einlassen auf die langwierige Suche nach Kompromissen und sachlicher Zusammenarbeit? Dafür brauche es auch von der Gesellschaft mehr Rückhalt, sagte Bundestagsvize Göring-Eckardt.
Sie forderte ein «parteiübergreifendes Stoppschild und den gemeinsamen Aufruf zur Umkehr, zu mehr Respekt und Anstand miteinander». Sie wünsche dem Land «ein Ende der verbalen Scharfmacherei, die im anonymen Netz zur digitalen Anfeindung wird und auf den Straßen zu körperlicher Gewalt».
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