Deutschlands Wirtschaft kränkelt - wie konnte es dazu kommen?
Deutschland hat sich vom Musterknaben zum Sorgenkind Europas entwickelt. Schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Umwidmung von 60 Milliarden Euro Sondervermögen war Deutschland das einzige EU-Land mit negativem Wirtschaftswachstum, zu deutsch schrumpfender Wirtschaftsleistung (1). Alle anderen EU-Länder haben Wirtschaftswachstum, nur wir nicht. Das kam nicht von ungefähr.
Das Wirtschaftswunder in Westdeutschland war ein Gemeinschaftswerk von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Marshallplan (2), Montanmitbestimmung und Tarifautonomie machten es möglich, daß Wohlstand für alle, nicht nur für eine reiche Oberschicht Realität wurde. Die Automobilindustrie wurde eine Säule der westdeutschen Export-Wirtschaft. Volkswagen baute den VW Santana als ersten und lange Zeit einzigen PKW für und in China in einem Joint Venture mit chinesischen Firmen (3). Das gab der deutschen Automobilindustrie dort noch lange einen Wettbewerbsvorsprung. In Deutschland verdienten VW-Arbeiter teils besser als Akademiker, auch Gastarbeiter aus Griechenland, Italien und der Türkei verdienten lange gut bei den großen deutschen Automobilherstellern Audi, BMW, Mercedes, Porsche und VW in Emden, Hannover, Ingolstadt, München und Stuttgart.
Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte (Lohnquote) am deutschen Bruttosozialprodukt (BIP) war anfangs deutlich höher als der Anteil der Kapitalerträge, Mieten, Pachten und Unternehmenseinkünfte insgesamt (Gewinnquote). Doch die Entwicklung von Lohnquote und Gewinnquote verlief gegenläufig. Im Jahr 1976 betrug die Lohnquote noch 75 Prozent des BIP, die Gewinnquote 25 Prozent. 2008 betrug die Lohnquote nur noch 60 Prozent des BIP, die Gewinnquote 40 Prozent. Bis 2016 ging die Schere dann nicht mehr auseinander, pegelte sich bei 63 Prozent Lohnquote und 37 Prozent Gewinnquote 2016 ein (4). Heute scheint die Lohnquote eher wieder zu sinken.
Diese Entwicklung traf nicht nur Deutschland, sondern alle westlichen Industrienationen. Sie war eine Folge der Globalisierung, des weitgehend freien Verkehrs von Waren und Dienstleistungen in Europa und in den westlichen Industrienationen. Japanische Autos eroberten und überschwemmten den amerikanischen Automarkt, Detroit starb als Autostadt. Aber nicht nur bessere Effizienz und Produktivität, sondern auch billigere Löhne bis hin zu Dumping-Löhnen verzerrten den globalen Wettbewerb von Waren und Dienstleistungen. Diese globale Dumping-Wirtschaft hat dazu geführt, daß mittlerweile auch bei uns ein Lohn- und Sozial-Dumping herrscht und dazu geführt hat, daß immer mehr Tarifverträge aufgekündigt werden, daß Arbeitsplätze in außertarifliche Leih- und Zeitarbeitsplätze umgewandelt wurden und daß ganze Unternehmenszweige, ja ganze Unternehmen in billige, meist nicht mehr tarifgebundene Subunternehmen „outgesourct“ wurden.
Deutschland liegt beim Lebensstandard hinter der Schweiz und Skandinavien, wenn man den Index der menschlichen Entwicklung (HDI) zugrunde legt (5). Meiner Meinung nach liegt das daran, daß die deutsche Automobilindustrie schwächelt, aber wesentlich auch am ausufernden Dumpinglohn- und Niedriglohnsektor.
Außer zunächst in China bekam die deutsche Automobilindustrie weltweit Konkurrenz von japanischen und koreanischen Wettbewerbern, die bald den amerikanischen Automobilmarkt bestimmten. In China dominieren in den letzten Jahren chinesische Autohersteller den Massenmarkt selbst, aus Deutschland finden nur noch große Luxuslimousinen der Marken Audi, BMW, Mercedes und Porsche nennenswerten Absatz. Die deutsche Automobilindustrie hat zudem die Entwicklung von E-Autos verschlafen, baut selbst ihre E-Autos immer noch mit einem halben Hundert einzelner Steuercomputer für jedes Einzelteil, statt wie Tesla einen Bordcomputer fürs ganze Auto konzipiert zu haben. Der deutsche Entwicklungsrückstand bei E-Autos beträgt zehn Jahre. Das Ende deutscher Automobil-Dominanz ist erreicht.
Das betrifft nicht nur die Automobilindustrie im engeren Sinne. Das hat auch Auswirkungen auf den Werkzeugmaschinenbau. Weitere Industrien, die wegbrechen, sind der Atomkraftwerksbau (6) und die Solarindustrie, die wir dem chinesischen Dumping-Wettbewerb geopfert haben, statt diese Schlüsselindustrie zu retten (7). Weitere Faktoren, die die deutsche Wirtschaft weniger wettbewerbsfähig machen, sind die immer weiter wachsende Bürokratie, die mangelnde Digitalisierung, die fehlende Vernetzung zwischen Verwaltungen und Wirtschaft sowie eine Verwaltung mit hierarchischer Aufbauorganisation statt prozeßorientierter Ablauforganisation.
Aber noch wirkt das Wirtschaftswunder nach. Deutschlands Bevölkerung hat mit die höchste durchschnittliche Lebenserwartung in der EU. Das wertet der Index der menschlichen Entwicklung (HDI) positiv im Hinblick auf den Lebensstandard. Das stimmt. Im Hinblick auf die Wirtschaftsleistung ist es aber eine falsche Sicht. Denn die Überalterung der Bevölkerung bedeutet höhere Sozialleistungen für alte Menschen und eine geringere Produktivität pro Kopf der Bevölkerung. Auch die Kosten des Gesundheitswesens steigen dadurch eklatant. Deutschland hat so eine geringere Wirtschaftsleistung pro Kopf der Bevölkerung. Und Deutschland leistet sich einen ausufernden Dumpinglohn- und Niedriglohnsektor, der zu immer mehr Altersarmut führt. Damit ist höhere Lebenserwartung für immer mehr Menschen kein höherer, sondern ein prekärer Lebensstandard. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Anzahl der Grundrentenbezieher die Millionengrenze überschreitet (8).
Langsam spricht es sich selbst bei hartgesottenen neoliberalen Wirtschaftsjournalisten herum, daß die Agenda 2010 unsere Gesellschaft zunehmend gespalten hat, eine immer größere Anzahl von Geringverdienern außerhalb solider, sozialversicherungspflichtiger Arbeits- bzw. Beschäftigungs-Verhältnisse geschaffen hat. Endlich konstatiert auch Garbor Steingart (der frühere Chefredakteur des Handelsblattes und vorher langjähriger SPIEGEL-Korrespondent in Sachsen und Washington) Millionen „Niedriglohnbeschäftigte in Vollzeit“, die ein „Dienstleistungsprekariat von 4,2 Millionen Menschen“ bilden. „Das sind rund zehn Prozent aller Erwerbstätigen, aber 20 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten in Deutschland“. Und er folgert: „Mit diesen Erwerbsbiografien, und das ist die ökonomische Seite des Erschreckens, lässt sich keine Rentenanwartschaft erzielen, die als Grundlage für ein würdiges Leben im Alter taugt.“ (9)
Welche Ideen und Lösungen gibt es, um unsere Wirtschaftsleistung wieder anzukurbeln, ohne in Raubtier- und Turbo-Kapitalismus zu verfallen?
Deutschland muß seine soziale Marktwirtschaft nachhaltig, ökologisch und sozial gerechter gestalten. Die soziale Marktwirtschaft muß für die Herausforderungen der Globalisierung sowie des Klima- und Umweltschutzes fit gemacht werden. Lohn- und Sozial-Dumping muß bekämpft werden. Arbeitsschutz und soziale Mindeststandards auf Baustellen, in Betrieben und in der Massentierhaltung müssen durchgesetzt werden. Alle Wirtschaftsbereiche müssen nachhaltig wirtschaften. Die Auswirkungen von Produktion und Dienstleistungen auf Gesellschaft, Klima und Umwelt müssen in die Gestehungskosten eingerechnet werden. Klimaschädliche Emissionen müssen durch Emissionshandel ausgeglichen werden und bis 2030 neutralisiert sein. Die soziale Spaltung unserer Gesellschaft muß zurückgedreht werden. Geringverdiener brauchen eine menschenwürdige Alterssicherung. Der Dumping-Mißbrauch von Leiharbeit, Werkverträgen und Zeitarbeit muß verhindert werden.
Was wir heute in Politik und Wirtschaft wieder brauchen, ist Solidarität – diesmal globale, nicht nur nationale Solidarität. Wir brauchen eine Union der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der selbständig und nicht selbständig Beschäftigten. Wir brauchen Solidarität zwischen alten und neuen Bundesländern. Wir brauchen Solidarität in Europa, keinen Dumping-Wettbewerb zwischen Ost- und Westeuropa. Und wir brauchen globale Solidarität. Einen Marshallplan mit Afrika hat Bundesminister Gerd Müller schon 2017 gefordert. Wir brauchen noch mehr. Wir brauchen eine neue, eine globale soziale Marktwirtschaft. Laßt uns darüber diskutieren, gemeinsame Lösungen suchen, endlich wieder Politik für alle Menschen in Deutschland, Europa und der Welt machen. Laßt uns bei uns in Deutschland anfangen. Laßt uns Alleinerziehende, ältere Arbeitnehmer, Migranten und Niedriglöhner besser in unseren Arbeitsmarkt integrieren. Laßt Unternehmen wieder mehr Tarifverträge abschließen, indem öffentliche Ausschreibungen das für einen Zuschlag zwingend voraussetzen. In diesem Sinne erinnere ich an meinen Entwurf eines Brüsseler Manifests aus dem Jahre 2019. Es ist heute aktueller denn je (10).
Zum Verfasser: Otfrid Weiss ist Assessor jur., Ministerialrat a.D. und Oberst der Reserve. Nach seiner Verwaltungslaufbahn war er 21 Jahre in der Wirtschaft tätig, davon 14 Jahre bei SAP, Microsoft, Vision Consulting und Deloitte.
Anmerkungen
(2) Der Marshall-Plan läuft 1948 an: Die USA stellen Kredite bereit und liefern Waren, Rohstoffe und Lebensmittel. Zwischen 1948 und 1952 werden insgesamt rund 12,4 Milliarden Dollar bereitgestellt. Davon fließen 1,5 Milliarden Dollar nach Westdeutschland. - Quelle: https://www.hdg.de/lemo/kapitel/nachkriegsjahre/doppelte-staatsgruendung/marshall-plan-und-waehrungsreform.html#
(3) Vgl. https://www.zeit.de/auto/2010-12/volkswagen-santana/komplettansicht und https://www.deutschlandfunk.de/vom-santana-zum-massenmarkt-100.html
(4) Quelle: Statistisches Bundesamt, Ameco-Datenbank, zitiert nach Steingarts Morning Briefing am 7.12.2018, https://www.gaborsteingart.com/newslettermorning-briefing/liebe-cdu-ein-zuruf-von-gabor-steingart
(8) Quelle: https://www.zeit.de/politik/2022-03/rente-hartz-iv-altersarmut-deutschland-rekordstand
(9) Quelle: Steingarts Morning Briefing vom 5.2.2019 mit dem Titel "Anmerkung zur Respekt-Rente", online nicht mehr abrufbar unter https://www.gaborsteingart.com/newsletter-morning-briefing/anmerkung-zur-respekt-rente//?wp-nocache=true
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