Von wahrer Disziplin.
Disziplin wird im deutschen Sprachgebrauch viel zu oft mit Gehorsam gleichgesetzt. Warum wir die jedoch gar nicht brauchen können, erzählt Doreen Wolf in diesem Artikel.
Eine sächsische Zeitung veröffentlichte jüngst einen Artikel mit der Botschaft: „Kinder brauchen mehr Disziplin“. Endlich, denke ich bei mir. Endlich positioniert sich jemand vor der breiten Masse für unsere Kinder. Endlich wird thematisiert, dass sie noch zu oft der Willkür und dem, zum Teil fragwürdigen, Willen Erwachsener ausgesetzt sind. Endlich wird anerkannt, dass die menschliche Persönlichkeit ebenso different ausgeprägt ist, wie dessen Haar- und Augenfarbe. Und endlich werden die Notwendigkeit und die Chance betont, die in dieser Verschiedenartigkeit stecken. Doch es kam anders.
Wie kam ich zu meiner Hoffnung?
In seinem lateinischen Wortursprung wird „disciplina“ als Unterweisung, Unterricht oder Lehre übersetzt. Es geht also darum eine Fertigkeit zu erfahren, um sie übernehmen zu können. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich jedoch mehr und mehr eingebrannt, dass es um das bedingungslose Einhalten von Regeln und das Achten bestimmter Werte geht. Auch der benannte Artikel folgt diesem sprachlichen Gebrauch und ließ meine Hoffnung leider verfliegen.
Sooft ich auf Menschen treffe, die nach dieser Auslegung des Wortes trachten, sooft erlebe ich auch, dass eben diese Menschen etwas von unseren Kindern fordern, dass sie selbst nicht zeigen. Wie kann ein Erwachsener von einem Kind verlangen, dass es Verständnis für die Prioritäten der Erwachsenen aufbringt, wenn doch der Erwachsene gleichzeitig keinerlei Interesse an den Prioritäten des Kindes zeigt?
Kinder lernen von Erwachsenen. Nicht von dem was sie sagen, sondern von dem, was sie erfahren, oder eben auch unterwiesen bekommen, wie es das lateinische Ursprungswort so schön sagt. Wie ein Spiegel geben Kinder das Bild des Erwachsenen wieder. Wenn der Erwachsene verlangt, dass die von ihm vorgegebenen Werte eingehalten werden müssen und dabei die Integrität des Kindes verletzt wird, dann wird folglich das Kind die gleiche Forderung stellen und die Integrität des Erwachsenen verletzen. Das ist menschlich. Das ist normal.
Freilich, das geht auch anders. Ich kann natürlich den Willen jedes Kindes brechen. Das funktioniert bei dem einen einfacher und ist bei dem anderen etwas mühsamer. Im Ergebnis habe ich jedoch in beiden Fällen eine menschliche Maschine, die macht, was ich verlange.
Ist es das, was wir wollen, bedingungslosen Gehorsam?
Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, doch scheinen wir zeitgleich eine Künstliche Blödheit entwickeln zu wollen, vielleicht um uns zukünftig der Maschinerie leichter unterordnen zu können. Wir setzen uns für eine Homogenität der Menschen ein, wollen Ausreißer angleichen. Glaubt man der einschlägigen Literatur zu Entwicklungspsychologie und Erziehung, handelt es sich bei diesen Ausreißern jedoch um circa 20 Prozent der Menschen, die wir mit Verhaltenstherapien anpassen wollen, damit es in den Elternhäusern und pädagogischen Einrichtungen ruhiger wird.
Doch diese 20 Prozent sind keine Erfindung der Neuzeit. Und sie sind auch kein Ergebnis falscher Erziehung. Diese 20 Prozent waren schon immer da und das ist auch gut so! Denn Sie wären nicht in der Lage, diesen Artikel zu lesen, wenn es diese 20 Prozent nicht gäbe. Schlicht aus dem Mangel an technischen Errungenschaften. Es sind genau diese 20 Prozent, die den Status quo hinterfragen. Es sind genau diese 20 Prozent, die sich nicht abschrecken lassen, wenn man etwas so nicht macht. Es sind genau diese 20 Prozent, die das Licht in unsere Wohnzimmer und den Computer, bzw. mittlerweile das Smartphone, in unseren Alltag gebracht haben. Es sind genau diese 20 Prozent, die Fortschritt für 100 Prozent der Menschen ermöglichen. Keiner der 80 Prozent, die einfach nur Folge leisten, ist dazu im Stande. Und auch das ist gut so! Denn neben den Edisons und Steve Jobs‘ dieser Welt braucht es ebenso Menschen, die bereit sind, umzusetzen statt zu hinterfragen. Warum also stören wir uns so daran?
Ich habe keine Antwort auf diese Frage und bin einfach nur traurig, dass ich noch immer auf Menschen treffe, die ausschließlich für Ruhe und Ordnung plädieren statt für die Entwicklung einer gemeinsam starken Gesellschaft, die jeden Einzelnen braucht, genauso wie er oder sie ist. Die Natur hätte versagt, wenn es anders wäre. Und jeder, der das Wunder eines eigenen Kindes bereits erlebt hat, weiß, dass die Natur zu weit mehr in der Lage ist als unser menschlicher Verstand.
Ich möchte Sie alle aufrufen, jedem Kind Vertrauen und Liebe zu schenken. Sie werden es nachahmen und so zu dem gedeihen, wozu sie geboren worden – zu einem wertvollen Teil unserer Gesellschaft von heute UND morgen.
Ihre Doreen Wolf
PS: Wenn Sie mehr zu meinen Ansätzen wissen möchten, empfehle ich Ihnen unter anderem die Literatur von Remo H. Largo, Daniel Siegel, Jesper Juul, Nora Imlau oder Andreas Reinke, denen ich für ihre Aufklärungsarbeit unendlich dankbar bin.
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