Kontrollverlust, Politikversagen und Populismus
Von Otfrid Weiss, Dresden, am 19. April 2024
Die deutsche Demokratie als politisches System, zumindest aber die derzeit in Bund, Ländern und Kommunen regierenden Parteien verlieren zunehmend die Zustimmung der Mittelschicht mit der Folge, daß immer mehr Wähler an den Rand abwandern, extremistische Parteien wählen: (ZITAT) Die deutsche Mittelschicht ist anfälliger geworden für Populismus, zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Ausufernde Bürokratie und Innovationsstau tragen demnach dazu bei, die Ränder zu stärken. (…) Das Vertrauen in die etablierten Parteien ist in der gesellschaftlichen Mitte zuletzt deutlich gesunken. Das liegt laut einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung vor allem daran, dass Menschen mit mittleren Einkommen zwar einerseits einen großen Veränderungsdruck spüren, andererseits aber nicht den Eindruck haben, dass die Ampel-Koalition dafür die Weichen richtig stellt. Dass die Union von dieser Skepsis in Wählerumfragen bislang nur begrenzt profitiert, deutet nach Ansicht der Verfasser der Studie, Robert Vehrkamp und Silke Borgstedt, darauf hin, dass in diesen Milieus generell das Zutrauen in die Parteien der alten Bonner Republik schwindet. Weder SPD, Grünen und FDP noch CDU und CSU gelinge es derzeit, „in der Mitte den Eindruck von Empathie, Problemlösungsfähigkeit und Zugewandtheit zu hinterlassen, um ihre Wählerschaft gegen populistische Verführung und Mobilisierung zu immunisieren“, heißt es in der aktuellen Untersuchung. Die Analyse stützt sich auf vier repräsentative Befragungen zwischen September 2021 und Ende Februar 2024. (ZITAT ENDE) - Quelle: Studie der Bertelsmann-Stiftung, am 11. April 2024 von dpa und Handelsblatt veröffentlicht, siehe https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/stimmungsbild-studie-mitte-verliert-zunehmend-vertrauen-in-etablierte-parteien/100031614.html
Diesen empirischen Befund fasse ich dahingehend zusammen, daß Kontrollverlust und Politikversagen der regierenden Parteien, aber auch der Opposition und damit der deutschen Politik insgesamt ein kritisches Ausmaß wie zuletzt 2017 und 2018 in der Flüchtlingskrise erreicht haben. Damals waren rund 30 Prozent der Wählerschaft in Deutschland populistisch eingestellt. Im Juni 2020 hatte das entschlossene Handeln der Bundesregierung und der Länderregierungen in der Corona-Krise zunächst zu einer stark steigenden Zustimmung der Bevölkerung zu den Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung und zur Regierungspolitik insgesamt geführt. 2020 waren nur noch rund 20 Prozent der Wählerschaft in Deutschland populistisch eingestellt. Aber dieser positive Trend hielt nicht lange an. Demonstrationen ohne Masken gegen Maskenpflicht und andere Corona-Schutzmaßnahmen, gewalttätige Querdenker-Demos und andere Aktionen von Corona-Leugnern und Impfgegnern blieben ohne staatliche Ahndung und Durchsetzung der Corona-Schutzmaßnahmen und Impfpflicht. Das ließ die Zustimmung der Bevölkerung sinken.
Das Auf und Ab dieser Trends hatte die Bertelsmann-Stiftung bereits früher in sog. Populismus-Barometern 2017, 2018 und 2020 untersucht. 2017 mit dem Ergebnis, daß 29,2 Prozent der befragten Wähler in Deutschland populistisch eingestellt waren. 2018 hieß es dann: „Die Wählerschaft in Deutschland ist zunehmend populistisch eingestellt. Knapp jeder dritte Wahlberechtigte (30,4 Prozent) in Deutschland unterstützt laut dem neuen Populismusbarometer alle abgefragten populistischen Positionen. Das ist etwas mehr als im Vorjahr.“ – Quelle: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2018/oktober/deutschlands-mitte-wird-populistischer
Populismus gilt dabei als die Ablehnung politischer Eliten und pluralistischer Werte unter der gleichzeitigen Annahme, es gäbe einen einheitlichen Volkswillen. – Quelle: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-und-politische-eliten-so-populistisch-denken-deutsche-waehler-a-1230995.html
2020 hat die Bertelsmann-Stiftung erfragt, wie weit Populismus ein Jahr vor der Bundestagswahl 2021 verbreitet war und wie sich die Corona-Krise auf das Meinungsklima ausgewirkt hat. Und siehe da: Nur noch etwa 20,9 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland waren populistisch eingestellt. Populistische Einstellungen waren stark rückläufig, vor allem in der politischen Mitte. Gleichzeitig stiegen aber die Gefahren einer weiteren Radikalisierung am rechten Rand. – Quelle: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/september/populistische-einstellungen-in-deutschland-stark-ruecklaeufig
Zu den Ursachen stellt die Studie der Bertelsmann-Stiftung im Juni 2020, also noch relativ zu Beginn der Corona-Krise fest: „Die Corona-Krise hat die Trendwende im politischen Meinungsklima in Deutschland zwar stabilisiert und leicht verstärkt. Der Corona-Effekt hat sie jedoch weder ausgelöst, noch war sie ihr alleiniger Treiber. Die Trendwende war bereits deutlich vor Beginn der Krise geschafft. Treiber war dabei zum einen die nach 2018 deutlich verbesserte und inklusivere Regierungsarbeit. Zum anderen zeigen die Lerneffekte des demokratischen Antipopulismus in der Auseinandersetzung mit den Populisten erste Wirkung.“ – Quelle (siehe Seite 6): https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/populismusbarometer-2020-all
Im Detail heißt es dazu: (ZITAT) Diese Trendumkehr ist sicherlich auch ein Effekt der gestiegenen Politik- und Regierungszufriedenheit im bisherigen Verlauf der Corona-Krise – aber bei weitem nicht ausschließlich. Der antipopulistische Wandel des Meinungsklimas gelang bereits im Verlauf des Jahres 2019. Die Corona-Krise hat die Trendumkehr im Meinungsklima dann stabilisiert und verstärkt. Das zeigt auch ein Vergleich der Populismuswerte im Zeitverlauf. Die fünf dargestellten Datenpunkte des Populismusbarometers zwischen März 2017 und Juni 2020 zeigen die populistische Aufladung des Meinungsklimas vor und nach der Bundestagswahl 2017: Während der Anteil populistisch eingestellter Wähler von 29,2 Prozent im März 2017 bis auf fast ein Drittel (32,8 Prozent) im November 2018 anstieg, sank im gleichen Zeitraum der Anteil der unpopulistischen Wähler von 36,9 Prozent auf nur noch 31,4 Prozent. Der bisherige Höhepunkt der populistischen Welle in Deutschland war damit Ende 2018 erreicht. Bis Ende 2019 lag der Anteil der Populisten bereits deutlich niedriger und der Anteil der Nicht-Populisten deutlich höher als im Vorfeld der Bundestagswahl 2017. Die Trendwende war gelungen und setzte sich mit Ausbruch der Corona-Krise im März 2020 weiter fort. Ob sich der Trend auch ohne die Krise weiter verstärkt und fortgesetzt hätte, muss Spekulation bleiben. Der Ausbruch, Verlauf und das politische Management der Krise haben den Trend auch sicherlich ge- und verstärkt. Die „Rückkehr des Vertrauens“ (Vehrkamp und Bischoff 2020b) in gutes, verlässliches und inklusives Regierungshandeln hat auch die Populisten noch stärker in die Defensive gebracht. Für die Lehren der vergangenen Jahre und den politischen Umgang mit Populisten ist aber wichtig festzuhalten, dass die Corona-Krise nicht der auslösende Faktor dafür war. (ZITAT ENDE) – Quelle: ebenda, Seite 8
Seit Juni 2020 hat sich dieser positive Trend ins Gegenteil verändert, wie die eingangs zitierte Studie der Bertelsmann-Stiftung auf der Grundlage von vier repräsentativen Befragungen zwischen September 2021 und Ende Februar 2024, veröffentlicht im April 2024 zeigt.
Die „gestiegene Politik- und Regierungszufriedenheit im bisherigen Verlauf der Corona-Krise“ wurde im Juni 2020 konstatiert, also ganz am Anfang der Krise. Da gab es noch längst keine Impfungen, nur erste Querdenker-Demos gegen Masken und andere Schutzmaßnahmen. Die dann folgende Populismus-Welle der Corona-Leugner, Impf- und Maskengegner war noch nicht absehbar. AfD sowie andere Querdenker und Wutbürger hatten noch nicht mobilgemacht. Zunächst überwog die Zufriedenheit vieler Wähler damit, daß der Staat entschlossen und gezielt handelte. Es gab keinen Kontrollverlust wie in den ersten Jahren der Flüchtlingskrise seit 2015.
Meine erste These lautet, daß der dann ab Sommer 2020 folgende Kontrollverlust gegenüber der Populismus-Welle der Corona-Leugner, Impf- und Maskengegner ohne Durchsetzung der staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen, die ab 2021 folgende Corona-Impfpolitik sowie das zu lange durchgezogene und zu stringente staatliche Handeln in der Corona-Krise populistischen Gegen-Bewegungen erheblichen Auftrieb gegeben hat.
Meine zweite These lautet, daß ab 2022 der Ukraine-Krieg indirekt dazu beigetragen hat, latent vorhandene Ausländerfeindlichkeit wieder populistisch zu mißbrauchen. Dies nicht nur unmittelbar dadurch, daß eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland kamen und hier bevorzugt aufgenommen wurden. Die Erfahrung, daß sich gerade wohlhabende Ukrainer mit ihren Familien hierher geflüchtet hatten, mit ihren SUV’s im Straßenbild auffielen und ihre Privilegien ungeniert wahrnahmen, war nicht geeignet, Vorbehalte gegen Flüchtlinge generell abzubauen.
Meine dritte These lautet, daß die Corona-Krise auch dazu beigetragen hat, daß weniger Flüchtlinge aus Afrika und Kleinasien, insbesondere weniger Syrer, Türken, Afghanen, Iraker und Menschen aus dem Magreb nach Deutschland kamen. Das hat die vorher aufgeheizte Stimmung im Lande beruhigt. Doch seit 2023 kommen wieder mehr Flüchtlinge aus diesen Ländern zu uns. Mittlerweile sind immer mehr Landkreise und kreisfreie Städte überlastet. Sie können die neuerlichen Flüchtlingsströme nur noch in immer neuen Container-Siedlungen unterbringen. Dagegen regt sich immer mehr Widerstand der Wähler. Jetzt hat Dresden als erste deutsche Großstadt ihren Status als „Sicherer Hafen“ für Flüchtlinge aufgekündigt. – Quelle: https://www.saechsische.de/dresden/politik/abstimung-im-rat-dresden-ist-kein-sicherer-hafen-fuer-gefluechtete-5981097.html
Die neuerliche Flüchtlingswelle hat die latent vorhandene Ausländerfeindlichkeit und ihren populistischen Mißbrauch besonders im Osten Deutschlands wieder neu entfacht. Denn es ist nicht so, daß es in der DDR keine Ausländerfeindlichkeit gegeben hätte. Schon zu DDR-Zeiten gab es gewaltbereite Nazis in der DDR: (ZITAT) Gewaltbereite Nazis hatte es bereits in der DDR gegeben. Doch lange deckelte die Staatssicherheit den Rechtsextremismus. Offiziell existierte das Problem nicht. Nach der Wiedervereinigung wird die Szene auf der Straße sichtbar - und zieht, auch gesteuert von Nazi-Funktionären aus dem Westen, immer mehr Jugendliche an. Zeitgleich gilt in der ehemaligen DDR nun das bundesdeutsche Ausländerrecht: Im Einigungsvertrag ist festgehalten, dass die fünf neuen Länder zusammen ab sofort 20 Prozent aller Asylbewerber in Deutschland aufnehmen müssen. (ZITAT ENDE) - Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Verharmlost-und-vergessen-Rechte-Gewalt-vor-Lichtenhagen,lichtenhagen368.html
Schon gleich nach der deutschen Einheit gab es gewalttätige Fußball-Hooligans und ausländerfeindliche Ausschreitungen in den neuen Ländern. In Dresden habe ich 1991 vom Gebäude des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Arbeit (SMWA) aus selbst erlebt, wie sich Fußball-Hooligans von Dynamo Dresden mit gegnerischen Fans in der Nähe des Hauptbahnhofs brutale Straßenschlachten geliefert haben. Gegen die Aufnahme von Asylbewerbern und anderen Flüchtlingen im Gebiet der ehemaligen DDR gibt es seit 1991 gewalttätigen Widerstand: (ZITAT) Bereits im Sommer 1991 - und damit ein Jahr vor den brutalen Übergriffen in Rostock-Lichtenhagen - ist Gewalt gegen Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern an der Tagesordnung. So überfallen 15 Jugendliche im Juli in Wismar eine Unterkunft für jugoslawische Familien, zerschlagen Fenster und brüllen Parolen wie "Ausländer raus!". Mehrere Menschen werden verletzt. In Trollenhagen bei Neubrandenburg steigen am selben Wochenende fünf Vermummte in eine Unterkunft ein und schlagen eine Frau zusammen. Die Bewohner des Heims schlafen in den Tagen darauf auf den Fluren, weil sie Angst vor einem weiteren Angriff haben. (ZITAT ENDE) - Quelle: ebenda
Im August 1992 eskaliert die Gewalt in Rostock: (ZITAT) Rechte werfen Steine und Molotowcocktails, Anwohner applaudieren: Tagelang halten ab dem 22. August 1992 brutale Übergriffe auf Ausländer in Rostock-Lichtenhagen an. Politik und Polizei sind überfordert. (...) Tags darauf fliegen die ersten Brandsätze - eine entfesselte Meute macht ihrem Hass und ihrer Frustration Luft, unterstützt von bekannten deutschen Rechtsextremen, die angereist sind. Die versammelten Schaulustigen halten die Gewalttäter nicht auf - im Gegenteil: Sie applaudieren den Tätern, feuern sie an. (...) Erst in der Nacht kommt Verstärkung durch Polizisten aus Hamburg und Beamte des Bundesgrenzschutzes und stoppt die Gewalttäter - vorerst. Doch schon am nächsten Tag rotten sich rechte Skinheads und andere Gewalttäter wieder zusammen, werfen erneut Steine und Molotowcocktails gegen die Aufnahmestelle, greifen Polizisten an. Die johlende Menge applaudiert und skandiert: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!" (...) Erst am Montag, dem dritten Tag der Ausschreitungen, werden die Asylbewerber aus der Aufnahmestelle evakuiert. Doch die Übergriffe gehen mit gleicher Brutalität weiter. Am Abend ist die Situation komplett außer Kontrolle: Die meist jugendlichen Gewalttäter liefern sich eine Straßenschlacht mit der Polizei, mehrere Beamte werden verletzt. Schließlich zieht sich die Polizei zurück - und lässt die im Gebäude verbliebenen Menschen schutzlos zurück. Kurz darauf brennt das Haus. Die Feuerwehr ist vor Ort, wird aber von der Menschenmenge bei den Rettungsarbeiten behindert. Rund 120 Vietnamesen sind in dem Gebäude eingeschlossen, darunter auch Kinder. Mit ihnen in dem brennenden Haus gefangen sind ein Fernsehteam des ZDF sowie der Leiter der Zentralen Aufnahmestelle, Rainer Hagen. Den Eingeschlossenen gelingt es, die mit Schlössern gesicherten Notausgänge aufzubrechen und aufs Dach zu flüchten. (...) Etwa eine Stunde später ist der Brand gelöscht, die völlig verängstigten Bewohner - einige halten sich noch auf verschiedenen Etagen des Gebäudes versteckt - werden in Sicherheit gebracht. Noch mehr als einen Tag dauern die pogromartigen Ausschreitungen an. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas gegen den zerstörungswütigen Mob ein. Erst in der Nacht zum Mittwoch, den 26. August, bekommt die Polizei die Lage in den Griff. Wie durch ein Wunder hat es keine Toten gegeben. (ZITAT ENDE) - Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Rostock-Lichtenhagen-Wo-sich-der-Fremdenhass-entlud,lichtenhagen159.html
Vor der deutschen Einheit gab es in Dresden, Sachsen und der übrigen DDR weit weniger Migranten (Gastarbeiterfamilien über Generationen, Asylbewerber und andere Flüchtlinge) als im Westen, schon gar keine Flüchtlingsströme, aber auch (fast) keine Gastarbeiterfamilien (mit Ausnahme der Vietnamesen, die schon zu DDR-Zeiten hier waren, aber keine Probleme machten und machen). Die Bevölkerung der DDR war Migranten nicht gewohnt. Auslandsreisen ins westliche Ausland und Übersee waren für die Masse der Bevölkerung nicht möglich. Migranten im eigenen Land waren unbekannt und ungewohnt. Verschärfend kam hinzu, daß der wirtschaftliche Umbruch infolge der deutschen Einheit viele Menschen arbeitslos und arm machte. Nahezu in jeder Familie gab es jemanden, der von Arbeitslosigkeit betroffen war. Auch qualifizierte Industriearbeiter und Ingenieure im besten Lebensalter wurden massenweise entlassen, wenn ihre Betriebe von der Treuhandanstalt liquidiert wurden. Das betraf dann auch ihre Familien. Die Stimmung in den neuen Ländern war angespannt.
In Sachsen habe ich das hautnah miterlebt. Als 1992 des Edelstahlwerk Freital liquidiert werden sollte, obwohl es einen potenten Interessenten für die Übernahme gab, besetzte die Belegschaft zusammen mit der IG Metall sogar zeitweise den Flughafen Dresden. Als Pressesprecher des SMWA war ich vor Ort. Der SPIEGEL berichtete darüber: (ZITAT) Nun soll das Stahlwerk privatisiert werden, und das ist das Werk von Kurt Biedenkopf. Der sächsische Ministerpräsident hatte sich, nicht zum erstenmal, mit der Treuhand angelegt, und er hat gewonnen. Es ist auch ein Sieg der Politik über die Treuhand. Deren Manager handeln nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien, die Politiker haben dann die Folgen zu tragen. Die wären, im Fall Freital, verheerend. Die Stadt lebt vom Stahlwerk, das noch 2100 Menschen beschäftigt. (…) Die Privatisierung der Sächsischen Edelstahlwerke, das wußte auch der zuständige Treuhand-Vorstand Krämer, »ist von erheblicher politischer Brisanz«. Biedenkopf konnte den Abwicklungsbeschluß nicht hinnehmen, wenn er in Sachsen weiter Optimismus verbreiten will. Am Donnerstag vergangener Woche verhandelte der Ministerpräsident mit der Treuhand-Chefin, am Freitag beschloß der Verwaltungsrat der Treuhand die Privatisierung der Edelstahlwerke. (ZITAT ENDE) - Quelle: https://www.spiegel.de/wirtschaft/stoppt-das-plattmachen-a-d3bb3722-0002-0001-0000-000013682232
Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat es über zehn Jahre lang geschafft, in Sachsen wieder eine sächsische Identität, Stolz auf die Aufbauleistung sowie Vertrauen und Zuversicht zu schaffen. Die sächsischen Wähler haben ihm dafür 1990 mit 53,8 Prozent der Stimmen einen Vertrauensvorschuß gegeben. 1994 haben sie seine Aufbauleistung mit 58,1 Prozent der Stimmen und 1999 mit 56,9 Prozent der Stimmen honoriert. – Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahlen_in_Sachsen
Damit ist es Kurt Biedenkopf und der CDU in Sachsen in den ersten zehn Jahren der deutschen Einheit weitgehend gelungen, rechten Umtrieben den Boden zu entziehen sowie ausländerfeindliche Ausschreitungen und Gewalttaten zu verhindern. Anfangs leider nicht ganz: (ZITAT) Am 21. September 1991 müssen die ersten Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik ihr Wohnheim in Hoyerswerda verlassen und werden mit Bussen aus der Stadt gebracht. Grund dafür sind die ausländerfeindlichen Exzesse, die fünf Tage zuvor begonnen hatten und an denen sich zeitweilig bis zu 500 Bewohner Hoyerswerdas beteiligten. Tage später verlassen sämtliche Ausländer die Stadt. In rechten Kreisen gilt Hoyerswerda als erste "ausländerfreie" Stadt Deutschlands. (ZITAT ENDE) - Quelle: https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/hoyerswerda-rassismus-gewalt-skinheads-100.html
In Dresden gab es schon lange vor PEGIDA rechte Umtriebe und Aufmärsche, die allerdings zunächst nichts mit Asylbewerbern und anderen Flüchtlingen zu tun hatten. Seit 2003 marschierten bundesweit angereiste Neonazis am 13. Februar, dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens im zweiten Weltkrieg, und mißbrauchten das Gedenken der Dresdner an die beiden Bombennächte für ihre politischen Zwecke. Organisiert wurden die rechten Aufmärsche damals von der NPD. Traditionell zogen nämlich am 13. Februar und ziehen noch heute zigtausende Dresdner mit Lichterketten über beide Brücken in der Dresdner Innenstadt und schlossen bzw. schließen den Kreis des Gedenkens eindrucksvoll mit Kerzenlicht. 2005 haben dann viele Dresdner gegen den Mißbrauch ihres Gedenktages durch die Neonazis demonstriert. Ich war dabei.
Dresden wurde von der NPD und anderen Neonazis als neuer Ansatzpunkt für rechte Aufmärsche und Umtriebe gewählt, weil die NPD und andere rechte Parteien wie die Republikaner im Westen bedeutungslos geworden waren. Besonders in der Sächsischen Schweiz fanden die rechten Parolen mehr Anklang als im Westen. Daher wurden dort auch regelmäßig rechte Festivals veranstaltet, zum Beispiel in Ostritz, vgl. https://www.deutschlandfunk.de/rechtsrock-festival-in-sachsen-was-deutsche-und-polnische-100.html
Erst nach der langen Amtszeit von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf flammten rechtsextreme Aufmärsche und Umtriebe wieder auf. Seine Nachfolger Georg Milbradt und Stanislaw Tillich waren dagegen machtlos bzw. unternahmen nichts dagegen, vermochten auch keine sächsische Identität zu stiften oder zu pflegen wie Kurt Biedenkopf. Nach Jahren der quälenden Untätigkeit angesichts rechter Ausschreitungen und Umtriebe mußte Ministerpräsident Tillich 2017 zurücktreten: (ZITAT) Das Problem ist, dass die frühen Jahre nach dem Wiedererstehen Sachsens als eigenständiges Land, als die Sachsen-Union so etwas war wie die Landes- und Staatspartei, bis heute in der Partei als Normaljahre verklärt werden. Aber wer einmal 58 Prozent der Stimmen bei einer Landtagswahl geholt hat und auch um die 50 Prozent bei einer Bundestagswahl, der kann die Halbierung des Ergebnisses – am 24. September (Anm.: 2017) waren es noch 26,9 Prozent – nicht gut verwinden. Für dieses Debakel steht Tillich. Dass er zurücktritt, ist konsequent. (...) Gescheitert ist er als Parteichef. Er hat die Sachsen-CDU, eine schwierige Truppe schon zu Biedenkopfs Zeiten, nicht richtig in den Griff bekommen. Seine erste Reaktion auf die demütigende Niederlage (die AfD wurde bei der Bundestagswahl ganz knapp stärkste Partei in Sachsen) war die Forderung nach einem Rechtsruck der Partei – er bezog das auf den Bund, aber damit wollte er vor allem daheim punkten. Denn nach rechts drängte es die sächsische CDU schon immer gern. (ZITAT ENDE) - Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/paukenschlag-in-sachsen-5506207.html
Diese Entwicklung hatte sich in Dresden und Sachsen schon länger angebahnt. Ab Oktober 2014 marschierten „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) jeden Montag in Dresden und protestierten gegen die Aufnahme von immer mehr Asylbewerbern und Flüchtlingen aus Bürgerkriegsländern wie Irak, Syrien und Afghanistan: (ZITAT) Hervorgegangen ist Pegida aus einer privaten Diskussionsgruppe im sozialen Netzwerk Facebook. Diese rief erstmals für den 20. Oktober 2014 in Dresden zu einer als "Abendspaziergang" bezeichneten Demonstration auf, an der sich 350 Menschen beteiligten. In der Folgezeit wurde jeden Montag demonstriert. Die Teilnehmerzahlen stiegen rasch stark an; am 12. Januar 2015 kamen 25.000 Menschen zusammen. Danach sanken die Zahlen wieder. (ZITAT ENDE) – Quelle: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500835/pegida
Zum Hintergrund: Ende 2014 forderte die Bundesregierung alle Bundesländer und forderten daraufhin die Bundesländer ihre Landkreise und kreisfreien Städte auf, massiv mehr Flüchtlingsunterkünfte zu schaffen, auch Sammelunterkünfte. Bis zum Sommer 2015 reagierten die meisten Landkreise und kreisfreien Städte in Sachsen jedoch nicht darauf, weil sie schon ahnten und wußten, daß das auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung stoßen würde. Im Juli 2015 wurde der Stadt Dresden mitgeteilt, daß ihr drei Tage später Tausende Asylbewerber und Flüchtlinge zur Unterbringung zugewiesen würden. Dann erst wurden binnen drei Tagen überhastet Zeltquartiere und andere provisorische Massenunterkünfte aus dem Boden gestampft. In Heidenau wurde der gerade leerstehende ehemalige PRAKTIKA-Baumarkt zur Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkunft umgewidmet. Dagegen regte sich spontan und zunehmend Widerstand in Dresden und in ganz Sachsen.
Rechtsextreme Aufmärsche und Umtriebe in Sachsen seit 2015 und Wahlergebnisse der Wahlen seit 2017 in den neuen Bundesländern zeigen einen Trend, der nicht zu leugnen ist. Nicht nur, aber besonders deutlich im Osten Deutschlands ist die Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen, mit der 2015 Flüchtlinge an Bahnhöfen in Hamburg, München und anderen westdeutschen Städten begrüßt wurden, einer weithin ablehnenden Haltung gegenüber Flüchtlingen gewichen. Diese Stimmung wurde und wird von rechten Gruppierungen und Parteien weiter aufgeheizt. Eine latent schon länger vorhandene Ausländerfeindlichkeit wird immer mehr salonfähig, wird an Stammtischen und vor allem in sozialen Medien unverhohlen zelebriert. Standardmuster dieser Hetze gegen Asylbewerber und Flüchtlinge sind pauschale Aussagen, Behauptungen und Gerüchte über „die Ausländer“, „die Asylbewerber“ und „die Flüchtlinge“, die Messerstechereien und Vergewaltigungen begingen.
Seit 2015 gab es in ostdeutschen Städten und Gemeinden Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, u.a. gewalttätige Auseinandersetzungen um das Asylbewerberheim in Freital im Juni 2015 ( siehe https://www.deutschlandfunk.de/freital-bundesregierung-ruegt-hetze-gegen-fluechtlinge-100.html), die Belagerung des zur Flüchtlingsunterkunft umgewidmeten PRAKTIKA-Baumarkts in Heidenau mit wüsten Beschimpfungen beim Besuch der Bundeskanzlerin im August 2015 (siehe https://www.augsburger-allgemeine.de/incoming/Polizei-sichert-den-ehemaligen-Praktiker-Baumarkt-in-Heidenau-vor-Uebergriffen-von-Gegner-der-Asylunterkunft-Foto-Arno-Burgi-id35215217.html?aid=35215402) und den unaufgeklärten Brandanschlag auf eine geplante Asylbewerberunterkunft in Bautzen im Februar 2016 (siehe https://www.tagesspiegel.de/politik/brandanschlag-auf-fluchtlingsheim-in-bautzen-bleibt-unaufgeklart-5247172.html).
Schon seit 2014 nahm dieser Trend seinen Anfang mit steigenden Flüchtlingszahlen in Deutschland. Die Tageszeitung DIE WELT hat auf einer interaktiven Karte die Proteste und Straftaten gegen Asylbewerber seit Januar 2014 gesammelt, siehe https://www.welt.de/politik/deutschland/article139562077/Karte-der-Gewalt-und-Proteste-gegen-Fluechtlinge.html. Im August 2017 trat der damalige sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich zurück, nachdem er weiteren Ausschreitungen gegen Flüchtlinge in Sachsen nur noch ohnmächtig gegenübergestanden hatte.
Der neue sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat vielfach versucht zu deeskalieren. Aber niemand wollte mit ihm oder überhaupt zur Sache diskutieren.
Die ablehnende Haltung und Wut gegenüber Flüchtlingen nimmt immer weiter zu und bestimmt immer mehr die Wahlergebnisse besonders im Osten Deutschlands.
Abschottung gegen Flüchtlinge, keine Aufnahme weiterer Flüchtlinge, Abschiebung abgelehnter und straffällig gewordener Asylbewerber sowie Kampf gegen die sog. illegale Migration sind seither bestimmende Themen jedes Wahlkampfs geworden.
Die damals neuesten Umfragen zur Europawahl waren Ende Januar 2024 auf der Plattform DAWUM wie folgt konsolidiert, d.h. aus verschiedenen Umfrageergebnissen zusammengefügt (das war zur Zeit der ersten Demos gegen Rechts; aktuelle Zahlen siehe in der klickbaren Quelle darunter): Für die CDU/CSU waren damals 28 Prozent, für die AfD 23 Prozent, für die Grünen 13 Prozent und für die SPD 9 Prozent vorhergesagt. Wenn diese Umfragen im Juni 2024 so in Wahlergebnisse münden würden, wären das im Vergleich zur letzten Europawahl 2019 (siehe oben) Stimmenzuwächse von 12 Prozent für die AfD sowie Stimmenverluste von 0,9 Prozent für die CDU/CSU, von 7,5 Prozent für die Grünen und 6,8 Prozent für die SPD. - Quelle: https://dawum.de/Europawahl
Auf die Wahlkreise der Europawahl umgelegt, ergab sich aus anderer Quelle schon im Juli 2023 ein Bild wie zu DDR-Zeiten: Mit nur sehr wenigen Ausnahmen würden fast alle Wahlkreise auf dem Gebiet der ehemaligen DDR (außer West-Berlin) von der AfD gewonnen werden, während fast alle Wahlkreise auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland von der CDU/CSU geholt werden würden, nur wenige von den Grünen (Bremen, Hamburg Nord, Kiel, Frankfurt am Main, Heidelberg, Ludwigshafen, Mannheim, Freiburg im Breisgau), aber auch einige von der AfD geholt werden würden (Hamburg Süd, Emsland, Eifel, Heilbronn, Stuttgart, Schwaben und das Hohenloher Land). – Quelle: https://www.wahlkreisprognose.de/2023/07/15/eurotrend-union-fuehrt-vor-afd-spd-nur-bei-10-prozent (mit beeindruckender Grafik)
Meine vierte These und Schlußthese lautet nun: Das entschlossene staatliche Handeln in der Corona-Krise hat zwar den Populismus bei deutschen Wählern bis zum Juni 2020 vorübergehend signifikant von 30 auf 20 Prozent reduziert. Aber ab 2023 dürfte der Populismus wieder signifikant angestiegen sein. Gäbe es 2024 wieder ein Populismusbarometer der Bertelsmann-Stiftung für die gesamte Wählerschaft, nicht nur für die Mittelschicht, würde es einen Anstieg des Populismus mindestens auf 30 Prozent, wenn nicht mehr aufzeigen und durch Umfragen belegen. Fast alle Parteien reagieren längst auf diese veränderte Stimmungslage und bereiten sich auf die Wahlen 2024 dadurch vor, daß sie Maßnahmen gegen illegale Migration in den Vordergrund ihrer Aktivitäten stellen. Demgegenüber geraten andere brennende Themen wie der Klimawandel in den Hintergrund.
Bauernproteste und andere Trittbrettfahrer dieser Stimmungslage gegen „die da oben“ feiern fröhliche Urstände. AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) frohlocken. In Sachsen und Thüringen droht die AfD nicht nur stärkste Partei, sondern auch Regierungspartei zu werden. Der Osten wird blau.
Zum Verfasser: Otfrid Weiss ist Assessor jur., Ministerialrat a.D. und Oberst der Reserve. Im Dezember 1990 kam er aus Niedersachsen zum Verwaltungsaufbau nach Sachsen. Nach seiner Verwaltungslaufbahn war er 21 Jahre in der Wirtschaft tätig, davon 14 Jahre bei SAP, Microsoft, Vision Consulting und Deloitte.