Nach der großen Solidarität bei der Aufnahme von Ukrainern hat die Migrationsforscherin Birgit Glorius Vorurteile und Rassismus beim Blick auf Flüchtlinge beklagt. «Es ist toll, wie viel Unterstützung Menschen aus der Ukraine erfahren», sagte die Professorin für Humangeografie an der TU Chemnitz der Deutschen Presse-Agentur. Inzwischen gebe es aber eine deutliche Hierarchie zwischen Geflüchteten verschiedener Herkunft in Deutschland. So hätten es Menschen, die aus anderen Ländern hier Schutz suchten, deutlich schwerer als Geflüchtete aus der Ukraine. Das könne Probleme für die Zukunft bringen, warnte sie.
Das Leid der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine werde offensichtlich mit viel mehr Empathie wahrgenommen als das von Flüchtlingen anderer Länder, konstatierte Glorius. Denen werde häufig unterstellt, sie hätten keine echten Fluchtgründe. Je dunkler die Hautfarbe eines Flüchtlings, desto stärker seien oft die Vorbehalte, betonte sie. Auch die Religion spiele eine Rolle - mit negativen Auswirkungen vor allem für Menschen muslimischen Glaubens. Glorius sprach von «eingeübten rassistischen Wahrnehmungsmustern» in der Gesellschaft.
Unter Flüchtlingen werde sehr kritisch gesehen, dass Geflüchtete aus der Ukraine rasch eigene Wohnungen erhalten, während andere teils zwei Jahre in Gemeinschaftsunterkünften leben mussten, schilderte die Expertin. Ukrainer müssten sich keinem Asylverfahren unterziehen und seien anders als andere Flüchtlinge nicht an bestimmte, von den Behörden zugewiesene Wohnorte gebunden. Zudem haben viele Kommunen Ukrainern den Eintritt zu Museen, Zoos und Schwimmbädern erlassen und sie durften kostenlos den Nahverkehr nutzen. «Wir sollten darüber nachdenken, ob es nicht gewinnbringend wäre, das allen Flüchtlingen zu gewähren», sagte die Expertin. Sie steht dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vor.
Wie sich die Zahl der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine weiter entwickle, sei schwer abzuschätzen, erklärte Glorius. «Momentan haben die meisten von ihnen den starken Wunsch, bald zurückzukehren.» So gebe es bereits zahlreiche Menschen, die wieder in die Ukraine reisten, weil ihre Wohnorte dort nicht mehr direkt umkämpft seien.
Glorius verwies darauf, dass schon vor dem Krieg viele Ukrainer zum Arbeiten nach Westeuropa gekommen waren - etwa in der Pflege und der Landwirtschaft. Die Grenzen zwischen Flucht und Arbeitsmigration könnten in Zukunft verstärkt verschwimmen. Für die Integration in den Arbeitsmarkt seien Sprachkurse und die Anerkennung von Berufsabschlüssen wichtig. Gute Jobperspektiven sehe sie etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe, aber auch in der Bildung - weniger in der Landwirtschaft. «Die klassischen Erntehelferjobs sind nicht interessant für Leute, die sich hier etwas aufbauen wollen.»
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